Judit Villiger

Phantastische Welten unter den Treppen
In ihrer Arbeit für das Schulhaus Unterlöchli in Luzern beschäftigt sich Judit Villiger mit traumhaften Welten. Eine literarische Vorlage, Jules Vernes "Reise zum Mittelpunkt der Erde", nahm sie zum Anlass, um mit drei Modellen den Gang durch das terrassierte Gebäude zum Ab-, beziehungsweise Aufstieg in eine phantastische Unterwelt werden zu lassen. Unter den Treppen der drei Stockwerke des an den Hang geschmiegten, gestaffelten Baukörpers befinden sich kleine Podeste, die den Schülerinnen und Schülern eine Sitzgelegenheit bieten. Dieses in die Architektur integrierte Element, innwendig hohl, benutzt Judit Villiger, um darin eine Art von oben zu betrachtende Guckkastenbühne zu installieren. Im Klassenverband aufsteigend, arbeiten sich die Schülerinnen und Schüler so nicht nur ausbildungsmässig durch das Schulhaus empor, sondern parallel dazu auch durch die Schichten von Jules Vernes Unterweltvorstellung. Da sich, topographisch korrekt, der Einstiegs-, der zugleich auch Austrittsort für Vernes Protagonisten ist, im obersten Stockwerk befindet, gestaltet sich der Gang durchs Schulhaus gewissermassen als eine Art zyklische Reise.

Der Erzählung nach fand eine Forschergruppe durch den Schlot eines Vulkans in Island den Einstieg zum Mittelpunkt der Erde. Im Podest unter der Treppe des obersten Stockwerks des Gebäudes hat Judit Villiger diese Eingangspforte in Form einer Art mythischen Vulkanlandschaft gestaltet, bei der, getreu der Vorlage, eine geheimnisvolle Runenschrift den Weg weist. Von oben blickt man durch kreisförmige Gucklöcher auf eine in die Unendlichkeit gespiegelte Landschaft mit rot beleuchteten Vulkanschloten, Korallenriffen und schroffen Felswänden, die perfekte Illusion eines weiten, urtümlichen Geländes. Dass die Landschaft aus bemaltem Karton, Papier und WC-Rollen gebildet ist, fällt dabei im ersten Moment gar nicht auf. Vielleicht bemerkt man es auch nicht auf den zweiten Blick, vielleicht überhaupt nicht – denn Judit Villigers Arbeit will uns verführen, fordert uns auf, einzutauchen in eine phantastische Märchenwelt. Allerdings lässt die Art der Präsentation – der flache Guckkasten – auch keinen Moment Zweifel aufkommen, dass wir es mit einer Bühne zu tun haben, einer Welt der Illusionen, und somit wird die Erfahrung an eine Reflexion der Situation gebunden. Auf der zweiten Ebene, einer ausgestorbenen Wildnis des urzeitlichen Tertiärs, fällt die Sorgfalt, die sich die Künstlerin bei der Gestaltung ihrer illusionistischen Welt gegeben hat, noch mehr auf: Im Wald der gigantischen Pilze, auf den die Wissenschaftler im Laufe ihres Vordringens ins Erdinnere treffen, sind die archaischen Pflanzen und mineralischen Grotten, das unterirdische Mittelmeer und die übrig gebliebenen Saurier in ausgetüfteltem Naturalismus mit denselben schlichten Materialien geformt, die schon in der Vulkanlandschaft vorherrschten. Von blauem Licht science-ficition-mässig verzaubert, verliert sich der Blick in den Schachtelhalmen aus Papiertüten, den schroffen Klippen aus Wellpappe und dem Gelände aus Eierkartons – eine Miniaturlandschaft, bei deren Betrachtung sich die Grössenrelationen verlieren und das Mikroskopische plötzlich ins Monumentale gesteigert erscheint.

Es ist nicht das erste Mal, dass Judit Villiger uns Bilder vorsetzt, denen nicht zu trauen ist. In ihrer Zeichnung eines Hasenkopfs beispielsweise fällt erst bei näherer Betrachtung auf, dass uns das Tier seltsam starr entgegenblickt – kein Wunder, denn die Künstlerin hatte keinen lebendigen Hasen, sondern ein Tierpräparat abgezeichnet. Es ist nicht die Wirklichkeit, die Judit Villiger interessiert, es ist das Bild der Wirklichkeit, wie es uns in der Kunst und Literatur entgegentritt, es ist das "wie wenn" und "als ob", die Welt der bereits interpretierten Bilder. So erstaunt es auch nicht, dass sie sich bei ihrer Beschäftigung mit Jules Verne nicht nur auf die Primärquelle verlässt, sondern auch Elemente der bekanntesten Verfilmung des Romans, der Hollywood-Produktion von 1959, in ihre Vorstellungen einfliessen lässt. Der Film der uns – Computeranimation und perfekte Tricktechnik gewohnt – heute so erfrischend handwerklich entgegentritt, verrät das Kulissenhafte, ist selbst eine freie Umsetzung der literarischen Vorlage, auf die sich Judit Villiger nun ebenso bezieht wie auf das Original. So etwa in der letzten Station der Reise im untersten Stockwerk des Schulhauses, wo das sagenhafte Atlantis als antikisierende Architekturphantasie im Styropor der Filmkulisse aufersteht, in der Überreste von Tempeln und Amphitheatern von riesigen Gesteinsbrocken zertrümmert erscheinen und eine sich verjüngende Säulenallee im Goldgrund gespiegelt perspektivische Tiefe vorgaukelt.

Das Modell, dieses stets faszinierende Abbild einer Wirklichkeit, oder, in der Utopie, einer Vorstellung zukünftig gewünschter Zustände, wird so zum vielfachen Trugbild: Was wir sehen, ist die Visualisierung einer fiktionalen Vorlage, gespiegelt in einer Hollywood-Phantasie, umgesetzt in eine märchenhaft-poetische Landschaft, die sich dem Betrachter jedoch nie ganz offenbart. Durch die Gucklöcher und die Spiegelungen werden Einblicke gewährt, aber eine Übersicht verhindert, und wer hineinblickt, beginnt automatisch das vorgefundene Bild selbst zu vervollständigen. Damit knüpft Judit Villiger nicht zuletzt an ihre bereits in früheren Werkgruppen angegangenen Untersuchungen kunsthistorischer Abbilder an. An jene Arbeiten im Miniaturmuseum etwa, die versuchen, die Zweidimensionalität berühmter Bilder in die Dreidimensionalität kleiner Modelle zu überführen. Das Interesse der Künstlerin liegt bei jenen Dingen, die uns ein Bild nicht zeigt, bei den verdeckten Stellen, der Rückseite, dem Geschehen ausserhalb des Bilderrahmens. Was sich hinter der Mona Lisa befindet, können wir nur vermuten, denn ein Bild gibt uns immer nur eine begrenzte Menge an Informationen – ob es nun auf die Wirklichkeit oder auf eine Fiktion verweist.

Gabrielle Boller
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