Simon English

Betrachten, nicht lesen
Unvermittelter Ausdruck, Instinkt, das Unbewusste - Gedanken und Begriffe, die beim Betrachten von Simon Englishs Zeichnungen ausgelöst werden. In verschiedenen Konstellationen präsentiert, etwa in Fünferreihen auf Tafeln angeordnet, sind jeweils 10 bzw. 15 Blätter zu sehen, die alle durch Malen, Zeichnen, Beschreiben und aufgeklebte Gegenstände scheinbar ohne Ordnung und Struktur entstanden sind. Immer wieder erscheinen dieselben Figuren und Themen, die irgendwie zufällig zueinander finden. Bilder von Krankenschwestern, Pferden, Männern bei unterschiedlichen sexuellen Aktivitäten und grossen Bunnies werden mit Bezügen zu Literatur (D'Artagnan, Stolz und Vorurteil, D.H. Lawrence), Pop-Kultur (Julie Christie; der Modedesigner der Königin, Norman Hartnell; Leeds United) und Kunst (El Greco, Martin Honert, Henry Moore oder Ellsworth Kelly) vermischt. Die in ein bestimmtes Werk geschriebenen Sätze erscheinen anderswo erneut: „I was four when my father was shot" - „Ich war vier Jahre alt, als mein Vater erschossen wurde", von Haddock, 2003 - und „I was three when my father was shot" - „Ich war drei Jahre alt, als mein Vater erschossen wurde", in Ansuya Blum, 2002-04; oder auch „The farmer wants a wife" - „Der Bauer sucht eine Frau" in Farmer Humpty and Mrs Brown, beide 2003-04.

Zwei Themen kehren immer wieder: Sex und die Unsicherheiten des Künstlers. Das erste, von English in seinen beiläufigen, aber sehr gekonnten Zeichnungen dargestellt, manifestiert sich in unkonventionellen Praktiken, etwa im „Fisting" (Faustfick), männlichem Gruppensex oder „Bondage", die derb und naiv zugleich wirken. Letzteres erscheint in Form von Kommentaren zu den Bildern („Mistake", „Very well painted") und Sätzen, die einmal selbstvernichtend („I don't know how to paint", „Your [sic] useless give up"), einmal verspielt oder optimistisch („If I was a sculptor, de diddle diddle diddle dee, I would want to be Robert Gober, de diddle diddle diddle dee") wirken. Aber trotz der starken Versuchung, Englishs Arbeiten in psychoanalytischen Kategorien zu deuten - was wohl eher mit nicht hinterfragten kulturellen Gewohnheiten als mit den Zeichnungen selbst zu tun hat -, würde ein solcher Ansatz das Wesentliche verfehlen. Die Kombination, Überlagerung, Beschriftung, Korrektur und Verschleierung der Arbeiten ist nicht als persönliches Geständnis zu verstehen. Davor warnen allein schon Sätze wie „The first big lie" (Die erste grosse Lüge) oder „My second big lie" (Meine zweite grosse Lüge). Sie sollen eben betrachtet, nicht gelesen werden. Jeder Versuch, ein erzählendes Ganzes zu konstruieren, würde dem Sinn der Ansammlung von Bildern und Worten widersprechen und diese von zusammenhangslosen Collagen in kleine Geschichten verwandeln. Denn bei Simon Englishs Zeichnungen handelt es sich nicht um fertige Objekte. Sie sind das Ergebnis einer künstlerischen Entscheidung, sich selbst die Möglichkeit der Selbstzensur zu verbieten. Und wenn irgendwo doch eine Korrektur vorgenommen werden soll, dann tritt sie auch dort zutage. Diese Aufrichtigkeit ebenso wie die Weigerung, „gute" von „schlechten" Produktionen zu unterscheiden, führt zu Bildern, die den Betrachter bis ins Detail hineinziehen und langsam, aber sicher absorbieren. Erst wenn jede erzählerische Form vergessen ist, werden sie richtig lebendig.

Pablo Lafuente
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