GENIE (LABOR) in District Berlin

Jana Gunstheimer

GENIE (LABOR)

26 Apr 2013 - 23 Apr 2015

Di - Fr 12.00 - 17.00 Uhr  und auf Anfrage.

 

Seit 2011 präsentiert District mit Kunst & Architektur ortspezifisch entwickelte Kunstprojekte, die an der Schnittstelle von Architektur, Stadtraum und Medientechnologien kritische Ansätze für die Reflexion gegenwärtiger gesellschaftlicher Fragestellungen aufzeigen. Bis heute wurden in diesem Rahmen Barbara Cavengs Neuköllner Sozialparkett (2011) und die Installationen Banner Study for an Agora (2011-2013) von Discoteca Flaming Star und Public Face (2012-2013) von Julius von Bismarck, Benjamin Maus und Richard Wilhelmer realisiert.

Jana Gunstheimers Genie (Labor) wurde 2008 erstmals in der Kunsthalle Bonn gezeigt und nun für District als permanente Installation in den ehemaligen Räumen des technischen Diensts der historischen Malzfabrik weiterentwickelt. Wo sich bis 1996 das operative Gehirn, Kontrollzentrum und Wartungskommando der Brauerei befand, hat die Künstlerin ein düsteres Labor mit Überwachungsplattform für ein abwesendes Genie geschaffen. Der verwildernde Protagonist dieses Ortes, der Gefängnis und Bühne zugleich darstellt, ist Gunstheimers Phantasiefigur Herr Wosche. Herr Wosche, so erfahren wir aus den anderen Werken der Serie „Genie“ (2008)[1], befindet sich auf dem Weg der Transformation in eine tierische Daseinsform: Während sein Körper unaufhörlich wächst, verlernt er die menschliche Sprache und weigert sich, den Normen des sozialen Umgangs weiter zu folgen. In der Figur des „Genies“ verbindet Gunstheimer in Genie (Labor) den Mythos einzigartiger geistiger Fähigkeiten mit den Symptomen so genannter Wolfskinder, die isoliert von anderen Menschen unter Tieren oder in grausamer Gefangenschaft aufwuchsen. Von jeher bildeten Wolfskinder, wie Kaspar Hauser oder das 1970 in Los Angeles entdeckte Mädchen Genie, eine Projektionsfläche westlicher Gesellschaften und gingen als wissenschaftlicher[2] wie auch literarischer Untersuchungsgegenstand in das kollektive Gedächtnis ein. Diese „Wilden“ aus der eigenen „zivilisierten“ Mitte verkörperten das Bild des „Anderen“, das mit den zeitgenössischen Exorzismen der Aufklärung und der Psychiatrie diszipliniert und dominiert wurde.

In der scheinbar selbst gewählten Verwilderung und Isolation des Herrn Wosche findet eine ebenfalls umgekehrte Wolfskind-Figur der Moderne ihren Widerklang: In seiner Erzählung Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street  von 1853 schildert Herman Melville die Entwicklung des Büroangestellten Bartleby, der sich im Laufe der Geschichte zusehends in sich selbst zurück zieht, die Teilnahme an der werkenden Gemeinschaft verweigert und so die Normen und Rollenbilder der frühkapitalistischen Gesellschaft zur Disposition stellt. Während Bartleby sein Ende im Gefängnis- bzw. Psychiatriehof findet, wird Herr Wosches Ausstieg laut Gunstheimers Genie/Talkshow (2008) zudem in Talkshowauftritten medial gezähmt und spektakularisiert.

Im Genie (Labor) befindet sich eine Tribüne, ein Observatorium für die Zelle in einer dystopisch anmutenden Versuchsanstalt. Hier stehen die Besucher_innen – gewissermaßen in Vertretung des Forschungs- bzw. Überwachungsteams – auf der sicheren Seite eines deckenhohen Gitters. Als Panoptikum en miniature ermöglicht die Architektur eine lückenlose Kontrolle aller Vorgänge innerhalb des Gefängnisses und wird so zum physischen Gleichnis der heutigen Allgegenwärtigkeit von Überwachungstechnologien. Michel Foucault beschreibt das Panoptikum als „eine Form politischer Technologie,“ mittels derer Körper im Raum platziert und die Beziehungen von Individuen zueinander getrennt werden[3]. Diese Art der hierarchischen Organisation, die Zentren und Taktiken der Macht definiert, erscheint in Gunstheimers Installation als doppelte Bühne. Während die Perspektive der Zuschauer_innen auf die verlassene Szenerie unter ihnen gerichtet ist, werden sie in exponierter Position selbst zu Beobachteten. Denn wer weiß schon genau, was in diesem Labor eigentlich erforscht wird.

 

1] Die Werkreihe Genie wurde im Kunstmuseum Bonn (2008) sowie im Kunsthaus Erfurt (2009) gezeigt und ist dokumentiert in den Publikationen Nova Porta, Maßnahmen zur Bewältigung von Risiken unter Aufsicht von Jana Gunstheimer, 2010, und Jana Gunstheimer, Methods of Destruction, 2012. 

[2] In der Medizin bezeichnet das Wolfskindsyndrom bzw. Hospitalismus oder Deprivationssyndrom die körperlichen und psychischen Begleitfolgen eines Krankenhaus- oder Heimaufenthalts oder einer Inhaftierung. Auch die Störungen von manchen Tieren in Gefangenschaft fallen unter den Begriff des Hospitalismus. Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Hospitalismus

[3] Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main, 1994.

 

Susanne Husse, im April 2013

2013

Galerie Römerapotheke, Rämistrasse 18, CH - 8001 Zürich | gallery@roemerapotheke.ch | Impressum | top