Judit Villiger

Mit Walser auf dem Spaziergang

Waren es in den letzten fünf Jahren vornehmlich bildnerische Werke, an denen sich die künstlerische Schaffenskraft von Judit Villiger entzündete, und die sie zum Ausgangspunkt ihrer plastischen Erkundungen machte, begleiten die Zürcher Malerin und Bildhauerin in der aktuellen Werkphase so berühmte literarische Reisende wie Robert Walser und Jules Verne. Robert Walsers schweifender Blick und spazierendes Räsonnieren, in dem sich Natureindrücke, Erinnerungen und Tagesaktualitäten mischen, ist vorbildhaft für Judit Villigers aktuelle Landschaftsmodelle. Angestachelt von Walsers Bemerkung, dass in Haupt- und Weltstädten der „grüne sanfte Baumschmuck“ und die „Wohltat freundlicher Wiesen“ (1916) fehle, baut die Künstlerin kurzerhand kleine Landschaften mit kegelförmigen Tännchen und teppichar-tigen Wiesenstücken aus dem Modellbauset, Architekturen aus Styropor und Eierkarton sowie Alpwiesen in Papptel-lern. Die fast mystische Erfahrung der von der Industrialisierung und Urbanisierung noch nicht vollständig verschan-delten Natur, wie sie in den Beschreibungen des frühmodernen Städters Walser vorkommen, wird im dreidimensionalen Nachbau als Gedankenkonstrukt entlarvt und der Reflexion zugänglich gemacht. Denn schon damals waren diese Land-schaften immer auch Orte der Sehnsucht und der Imagination, die sich vom tatsächlich Vorhandenen loslösten. Noch weiter geht der Umgang mit der imaginierten Natur in Jules Vernes Schilderung einer fantastischen Reise zum Mittel-punkt der Erde (1864). Für diese Landschaft gibt es kein Naturvorbild mehr, sondern sie wird ganz in den Bereich des Imaginären verlegt und zur Kulisse eines unerschütterlichen, naturwissenschaftlichen Forscherdranges degradiert. Den-noch entzündet sich gerade hier die Fantasie am stärksten, weil der Mittelpunkt der Erde bis heute „terra incognita“ geblieben ist, und – so wollte es Jules Verne vielleicht andeuten – übersteigerte Wissensgier und fantastischer Wahn sich ähnlicher sind, als zu erwarten wäre?
Judit Villigers Erkundung der Landschaftskonstrukte endet jedoch nicht beim Nachbau berühmter literarischer Reisebe-richte, sondern sie malt in einem zweiten Schritt ihre eigenen Modelle wieder ab und erzeugt so neue Landschaftsbilder, die sich ebenfalls auf der Kreuzung von Erinnerung, Sehnsucht und Sinneseindruck befinden. Mit der gemeinsamen Ausstellung von Modell und seinem „Nachbild“ legt die Künstlerin ihre eigene Bildgenese offen und verweist auf die grundsätzliche Konstruiertheit jedweder Naturdarstellung, in der sich immer auch schon bestehende Vorstellungen niederlegen. Damit knüpft die Künstlerin an früheren Werkgruppen wie den gemalten ausgestopften Tierpräparaten (2000-2005) und Domestic Landscapes (1998-2000) an, in denen sie unseren Drang das Lebendige, Ungezähmte zu bewahren, indem man es tötet und konserviert, sowie das Zurückholen der Landschaft in die Stadt, woraus man sie zuvor vertrieben hatte, thematisiert. Mit ihren zweidimensionalen und dreidimensionalen Landschaftsbildern leistet sie einen weiteren Beitrag zur Reflexion des äusserst komplexen Verhältnisses des zeitgenössischen Menschen zur Natur.

Kathleen Bühler, 2007

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