Marcel Gähler

Von einer Idee getrieben
Marcel Gähler vertieftes Sehen

Alltägliches Sehen: Die realistische Bildwelt von Marcel Gähler ist hermetisch. Er bevorzugt das monochrome Hell-Dunkel. Die jüngste Entwicklung räumt der Farbe indes eine neue, verhaltene Entfaltung ein. Gähler ist ein Künstler der Verdichtung. Seine vorwiegend kleinen Bilder entstehen in grossem Zeitaufwand. Sie zu ergründen ist schwierig. Die Bildgegenstände sind mit Vorliebe banal, unscheinbar. Alltägliches, das gerade deshalb nicht auffällt. Was Gähler zum Bildthema macht, wird normalerweise gar nicht wahrgenommen. Denn normales Sehen ist wertend. Wer aktiv sieht, registriert automatisch das Besondere, das Auffällige und blendet unbewusst das Selbstverständliche als belanglos aus. Oder man registriert die übergeordneten Begriff: Man sagt „da ist eine Wiese“, ohne die Blumen zu sehen, „Wald“ ohne die Bäume zu unterschieden, oder einfach „Gemüsegarten“: Was in den Beeten wächst, wie sie eingefasst sind, dass eine vom Wind zerrissenes Plastikfolie, von einem Stein beschwert, im Wind flattert, all das ist für die Alltagsorientierung nicht von Bedeutung.
Tatsache ist, dass das alltägliche Sehen gerade das Alltägliche nicht registriert. Wer mit dem Velo durch eine Schrebergartenkolonie fährt, sieht auf den Weg, bemerkt Personen, Auffälliges. Alles andere schliesst sich zum diffusen Hintergrund. Wo, wie in unserer Zeit, viele Informationen zu verarbeiten sind, hat man gerne neutrale Hintergründe. In aktuellen Theaterinszenierungen und Ausstellungsinszenierungen liefern „White boxes“ den idealen Kontrastraum für die Akteure. Ablenkung ist nicht gefragt. Unsere Sehgewohnheit reduziert alles nicht Spektakuläre zu Hintergrundssound. Deshalb finden so viele Zugreisende die Landschaft, die sie durchqueren, langweilig. Wer so reist, registriert bloss das Unvorhergesehene und angekündigte Sehenswürdigkeiten. Diese werden dann allerdings auch mit der Kamera festgehalten – fast immer aus denselben vorgegebenen „idealen“ Standpunkten und Blickwinkeln.

Das Langweilige: Marcel Gähler geht gegenteilig vor: Er sucht absichtlich nach dem, was die überwältigende Mehrheit nicht sieht, was ihr ihre Wahrnehmungsfilter unterschlagen. Für seine Aufnahmen bevorzugt er verborgene Standorte, die sonst niemand wählen würde. Von hier aus erforscht er die grosse, weite Domäne des Langweiligen. Ihn interessiert zum Beispiel der Gemüsegarten, den der ausländische Gastarbeiter – für das öffentliche Interesse ein Sandkorn im Grau des Langweiligen – irgendwo im urbanen No man’s land angelegt hat. – Gähler ist jedoch nicht der einzige Kunstschaffende im Territorium des Langweiligen. Das „normale“ Leben ist heute eine der ergiebigsten Forschungsfelder der Gegenwartskunst. Dabei ist die Schrebergartenkolonie besonders beliebt. Peter Fischli & David Weiss griffen 1997 selbst zu Hacke und Setzholz und demonstrierten in Münster, dass Kopfsalat und Sellerie, Lauch und Kohlkopf das verlorene Paradies bedeuten. Aber auch Schrebergärtnerinnen und -gärtner mit Kind und Kegel, ihre Häuschen und Grillkamine samt Gartenzwerg und Plastikplantschbecken, ihr Sitten und Rituale mobilisieren heute Heerscharen von Künstlerinnen und Künstlern. Die Langeweile dieser Orte wird zu einem neuen digitalen Biedermeier verarbeitet und dient als Quelle ebenso zahlloser soziokultureller Recherchen

Das Unheimliche: Gähler unterscheidet sich vom Mainstream. Ihn interessiert nicht der folkloristische Aspekt des Gewöhnlichen als Ausdruck einer neuen Paradiesesgegenwart. Er spürt den Ränder nach, dort wo das Langeweile ins Unheimliche und Fremde kippt. Er pirscht nicht als Voyeur durch Stachelbeerstauden, um bei Sommersonnenlicht familiäre Gärtneridyllen festzuhalten. Er kommt, wenn niemand da ist, des nachts, im Spätherbst und Winter, wenn die Beete abgeerntet und verlassen sind. Wenn nur noch Vertrocknetes und Verfaultes herrumliegt und die zerrissenen Plastikfolien längst nur noch an den gebastelten Holzgerüsten flattern.
Doch nicht nur Nutzgärten sucht Gähler auf. Schrebergärten liegen üblicherweise in urbanen Entwicklungsräumen. Sie werden von Neubauten verdrängt. Im Winter verlassene verschneite Baustellen sind für diesen Künstler ebenso magische Orte wie Gestrüpp, das auf Baubrachen wuchert. Auf seinen Streifzügen hat er auch – immer des Nachts – vor Einfamilienhäusern den zugeschneiten Rasen unter Sträuchern aufgenommen, in einer Baumschule junge Tännchen, oder ebenfalls im Wald, den Himmel zwischen Wipfeln fotografiert
Solche Bildmotive finden sich überall auf der Welt. Aber Gähler vermittelt auf seinen Aquarellen und Ölgemälden, die er nach den Fotos malt, den Eindruck von einer Situation, wie man sie nirgends zuvor gesehen hat. Diese stets verlassenen, menschenleeren Orte im fahlen Nachtlicht verunsichern. Sie ziehen einem den Boden unter den Füssen weg. Sie machen orientierungslos: Seine Bildern zeigen die vollkommen fremde Welt, in der sich ein Verzauberter in einem Märchen nicht wieder zurechtfinden kann und nicht weiss, ob das Geschaute gut oder böse ist, Freude oder Gefahr bedeutet.

Suggestivität: Nie sind Gärten, Baustellen, Bäume, die man mit dem spärlichen Licht einer Taschenlampe erkundet, fremder als in eisig verschneiter Wintersnacht. Was man im Glanz des reflektierenden Schnees im Lichtkegel des Kamerablitz für Sekundenbruchteile aus dem Nachtschwarz auftauchen sieht, bleibt irritierend unfassbar. Dass es sich bei Gählers Nachtbildern um abgemalte Blitzlichtaufnahmen handelt, machen Lichtreflexe auf Eis, Metall- und Plastikflächen ebenso deutlich wie Kondensationstropfen auf der Kameralinse. Das Nichtverschweigen, dass seine Aquarelle und Ölgemälde fotografierte Wirklichkeit in Malerei übersetzen, sollte eigentlich eher die Objektivierung der Bildaussage befördern. Dem ist jedoch nicht so.
Die Bilder der gemalten Fotos sind ungemein suggestiv. Die Flächen, die Licht reflektieren, drängen in den Vordergrund. Diese Lichtflächen liegen wie ausgeschnittene Schablonen auf dem undurchdringbaren Schwarz des Grundes. In der Nacht sind alle Katzen schwarz. Aber ich erkenne selbst in der schwärzesten, wenn ich von ihm zusätzliche Signale erhalte, meinen rotgetiegerten Kater wieder. Genauso funktionieren Gählers Nachtbilder. Wobei es sehr schwierig ist, diese zusätzlichen Signale zu benennen. Sie gehen nicht von dargestellten Gegenständen aus, sondern vielmehr von der Malerei, der Zeichnung selbst. Gähler vermag Stimmungen zu erzeugen, die weit über das fotografisch Erfasste hinausreichen. Insofern ist die Frage überflüssig, wieso er Fotos überhaupt abzeichnet und abmalt. Das Diffuse seiner nächtlichen Stimmungen erschafft Momente, wo die gesehene Wirklichkeit durchlässig wird. In Gählers Bildern, die unendlich viel mehr andeuten, als sie preisgeben, werden auf geradezu magische Weise die individuelle Erinnerung der Betrachterinnen und Betrachter aktiviert.

Fotorealismus: Marcel Gählers Grau- und Schwarzmalerei steht in der Tradition des Fotorealismus. Mit Gerhard Richter, der übergrossen Vaterfigur aller heute aktueller gegenständlicher Malerei, hat sich Gähler genau befasst. Prinzipiell ist zu sagen, dass er ebenso nach Fotografien malt, jedoch nicht nach gefundenen und ausgewählten, sondern stets nach selbst geschossen. Gerhard Richter ist seine photorealistische Graumalerei der sechziger Jahre ein Mittel der Distanznahme zum medial verbreiteten Bild, das Inhalte zu Schlagworten komprimiert. Ein Motiv, das Foto eine Verwandten in Naziuniform oder das Gruppenporträt ausgelassener Studentinnen, wird in Richters realistischer Pop art soweit versachlicht, dass alle Bildteile gleichpräsent werden. Mit dieser Nivellierung demaskiert Richter das korrupte Presse- und Werbebild, dessen eigentliche Inhalte von Gesellschaftsstrate¬gen agitatorisch manipuliert worden sind. Gähler decodiert seine Bildgegenstände nicht, er interessiert sich nicht für das Agitationspotential plakativer Oberflächen, und er demonstriert auch keinen Gesellschaftsdiskurs. Er dringt in die Bildtiefe ein. Er benutzt seine Fotos als individuelle Stimmungsauslöser, die Dinge evozieren, die gar nicht direkt darstellbar sind.

Romantik: Dieser Ansatz ist romantisch. Wenn Caspar David Friedrich auf seinen berühmten „Kreidefelsen auf Rügen“ 1818 mit grösster Hingabe die Oberflächen abgedorrte Äste und simplen Unkrauts schildert, als wären diese aus kostbarster Seide, dann geht es ihm darum, aufzuzeigen, dass das Göttliche selbst das Geringste durchdringt. Gähler ist kein religiöser Künstler, auch kein Pantheist. Aber Friedrichs totes Geäst und Gählers vergammelten Kohlstrünke sind sich doch seltsam nahe. Auf Friedrichs Bild geht die Sonne unter, das Übergangslicht verweist auf Nacht und Tod, jedoch auch schon auf die Wiedergeburt des neuen Tags.

Gählers Nächte werden durch die dumpfen Lichtkegel von Taschenlampenlicht erhellt. Daraus lässt sich keine Transzendenz und Jenseitshoffnung ableiten wie aus der zyklischen Wiederkehr von Sonne und Mond beim Romantiker. Dennoch kann Gählers Lichtstimmungen ihrem Wesen nach als romantisch bezeichnet werden. Friedrichs Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ ist ein Hoffnungsbild. Die erhoffte Wiederkehr des Tages ist Gewähr für die Auferstehung nach dem Tod – aber die dunkle Seite der Romantik, der pessimistische Zweifel schwingt in seinen Bildern immer auch mit. Friedrich kannte sehr wohl Angst, Zweifel, Hoffnungslosigkeit – man denke bloss an das Bild „Das Eismeer“, das einen im Packeis zermalmten Seglers zeigt oder auch an „Den Mönch am Meer“ vor dem nihilistisch leeren Nachtraum. Ohne Mönch wäre dieser schwarz leere Himmelsraum ein direkter Vorläufer von Gählers Nachtbildern.

Das dunkle Jetzt: In Kritiken sind Gählers schwarz-graue Nachtbilder bisher häufig kriminalistisch erklärt worden. Er stelle leere Schauplätze von Verbrechen dar, es ginge ihm sozusagen wie einem Polizeifotografen darum, Spuren zu sichern. Nur Opfer oder Spuren eines begangenen Gewaltverbrechens finden sich nirgends: keine Waffe, keine Fussabdrücke, kein Blut, keine verlorenen Gegenstände. Das Unheimliche dieser Bilder sozusagen als Teil eines Krimis zu deuten, greift zu kurz. Da ist mehr als in einem Suchbild. Die Unheimlichkeit geht tiefer, ist allgemeiner. In einer vertrauten Welt sich plötzlich nicht mehr geborgen zu fühlen, die Orientierung zu verlieren, nicht mehr zu wissen, wo man sich befindet – in diese Richtung zielt Gählers Kunst. Sie vermag bei ihren Betrachterinnen und Betrachtern Erinnerungsbilder zu aktivieren und macht dabei bewusst, dass uns die Distanz zur einstmals erlebten Wirklichkeit von dieser entfremdet.

Kontinuität: Die Kunst Marcel Gählers basiert auf der Überzeugung, dass das Wesentliche und Zeitlose überall geortet werden kann. Gähler geht stets von seinen eigenen existentiellen Erfahrung aus. Die ihm vertrauten Umwelt ist sein Experimentierfeld, das Eintauchen in die durch den raschen Konsum versiegelten Bildflächen eine immer wieder neu praktizierte Vorgehensweise. Zu Beginn seiner Malerei stehen Unterwasserbilder, die seine Frau beim Tauchen zeigen. Gähler hat auch sich selbst mit der Unterwasserkamera fotografiert und anschliessend porträtiert. Diese „stummen“ Selbstbildnisse antizipieren das Eintauchen in Tiefenräume, die unter der sichtbaren Oberflächen liegen. In seinen nächtlichen Fotografien eignet dem Dunkel, aus dem die Lichtreflexe aufleuchten, ebenfalls der Charakter einer Flüssigkeit, in die die Gegenwart zum Präparat erstarrt. Diese Hell-Dunkel-Präparate ermöglichen den Betrachtern ein ursprüngliches Sehen. Der Bildgegenstand ist nicht einfach da und kann identifiziert werden. Gähler präsentiert Gegenstände als primäre Objekte, als Urformen. Seine Bilder versetzen ihre Betrachterinnen und Betrachter  paradoxerweise in den Zustand des beinahe Blindseins. Man muss sich daran gewöhnen, nur sehr wenig wahrnehmen zu können, sich von Gegenstand zu Gegenstand fortzutasten und die Objekte und Räume dieser Bilder virtuell zu erkunden. Zur Strategie Gählers gehört auch der permanente Wechsel zwischen Gross und Klein, Nah und Fern. Das wandfüllende Grossaquarell in Grau-Schwarz-Weiss scheint uns in die Kraterlandschaft der Mondoberfläche zu katapultieren. Die Vergrösserung eines nächtlich verlassenen Gartenbeetes mit verfaulten Storzen wird zur Urlandschaft, während im magischen Kleinformat ein von Zweigen verdecktes Stückchen Wand vom Nachbarshaus zum schwarzen Magnetfeld implodiert.

Wandel: Die frühen Schwimmbadbilder sind gedämpft farbig. In den letzten Werken kehrt diese gleichsam submarine Farbigkeit zurück. Doch auch diese Farbigkeit ist limitiert, und zwar erinnert diese Beschränkung an die ersten Farbfotographie, die entweder rotbraune oder hellblaue Bilder ermöglichte. Auf diesen neuen Werken ist mehr zu sehen als auf den schwarz-grauen Nachtbildern. Gähler hat in Gärten fotografiert, einmal erscheit auch ein Wohnblick im Bild. Nie aber Menschen. Gähler begibt sich mit der Kamera immer in die grösstmögliche Distanz zu seinem Motiv, nicht räumlich, sondern inhaltlich. Er fotografiert durch ein Gebüsch, wählt einen Ausschnitt der eine verschneite Verandatreppe unbegehbar macht, einen Wohnblock zur Geisterfassade entmaterialisiert. Die Übertragung der Fotos in Malerei entzieht dem realistischen Bild die Gewissheit, dass das, was man sieht, keine Täuschung sei. Seine Bilder sind wie dünnes Eis. Wer sie zu verstehen sucht, bricht ein in das lauernde Fremde hinter dem Alltäglich-Langweiligen.

Von einer Idee getrieben: Die amerikanische Rocksängerin Patty Smith hat sich am 13. Juni 2008 in einem in Interview in der Neuen Züricher Zeitung über die negativen Seiten der Kommerzialisierung von Kunst und eine dadurch bei den Künstlern ausgelöste inhaltliche Verflachung geäussert: „Es gibt heute einfach zu wenig Künstler, die von einer Idee getrieben werden, die eine Berufung haben. Ich vermisse jedenfalls oft den geistigen Gehalt. Gehalt gibt es in der Kunst aber nur dann, wenn Künstler etwas Grosses erreichen und etwas Neues sagen wollen – es genügt nicht, dass sie irgendetwas Lustiges basteln.“ Ich bin überzeugt, Marcel Gähler, ist ein Künstler, der von einer Idee getrieben wird.“ Er verabscheut grosse Gesten, inszenierte Attitüden, Tabuverstösse, das Aufgreifen aktueller Themen wie das des Geschlechterdiskurses. Seine Bilder der Wirklichkeitsentfremdung sind zeitentrückt. Sie thematisieren Vergänglichkeit und Wirklichkeitsverlust in unspektakulären Bildern, bei denen das im Kegel der Taschenlampe flüchtig ans Licht Geholte immer neu klar macht, dass das Gesuchte im gezeigten Ausschnitt nicht zu finden ist. Diese Malerei führt uns konsequent an die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Sie macht beunruhigend deutlich, dass nichts sehen, nicht heisst, dass nichts da sei. Gähler versteht es, Vakuum zu erzeugen, in das er kleine optische Ventile einbaut, die Bilder aus unserer Erinnerung aufsaugen und an den Innenwänden der Glasscheiben, die seine Bildwelten stets umgeben, aufscheinen lassen. Diese Bilder sind eine Erweiterung des aktuellen Malereidiskurses.


Matthias Frehner
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