Reto Camenisch

Reto Camenisch / Zeit

von Denis Brudna

Reto Camenischs schwarzweiße Landschaftsbilder sind wie die tiefen Töne der Kirchenorgel, die uns in Unruhe versetzen, die uns erahnen lassen, wie tief die Tiefe sein kann, wie unergründlich, undurchschaubar und machtvoll sich die Dinge vor unseren Augen gruppieren, um zu zeigen, wer hier der Herr im Hause ist.

Der Fotograf wandert mit seiner 4x5 Inch-Kamera durch die Welt und hält sie fest.
Es ist letztlich zweitrangig, in welchen Regionen unserer Welt diese Bilder entstehen, auch das vorhandene Licht spielt eine untergeordnete Rolle. Denn das wahre Licht strahlt bei diesen Aufnahmen von innen heraus. Aus der Tiefe des Raumes, aus dem Kontinuum der Zeit.
Reto Camenisch fotografiert Landschaften, nein, er begegnet Landschaften und stellt sich ihnen mit seiner Kamera in den Weg. Er stemmt sich gegen Berge, überwindet Wüsten und durchschreitet Täler, als wäre er es, der sie geschaffen hat und sich mit deren Abbildern vergewissern möchte,  dass sie wohlgeraten sind. Sein Blick ist nicht der eines Schwätzers, der sich bei der Tischkonversation in banalen Floskeln verliert. Nein, der Fotograf erkennt die Tiefe, hat Erfahrungen mit Demut gemacht und ist bereit für den Augenblick, für DEN Augenblick alles zu geben. Die Felswand ist nicht die Felswand, der Stein ist nicht der Stein und der Wald nicht der Wald - Camenisch nutzt ihre erfassbare Oberfläche, um Metaphern zu schaffen. Seine Landschaftsaufnahmen entziehen sich bereits nach dem erstem Bild der Kategorisierung. Hier geht es nicht um romantische Aussichten, um malerische Momente, die uns von vielen Vorbildern suggeriert werden. Camenisch hat sich nicht in das Bergpanorama verliebt, sich in dem Dickicht des Waldes verloren, sondern  sucht mit Hilfe der Apparatur nach dem Wesen der Dinge. Wenn er sich z.B. in Marokko  mit seiner Kamera in der Halbwüste postiert, dann berichtet nicht nur das erfassbare Bild über dieses Ereignis. Durch das Bild provoziert, entfaltet eine Metaebene ihre Wirkung und lässt den Betrachter erahnen, wie die Atmosphäre genau an diesem Ort, genau zu der Stunde des Entstehens dort war.

Respekt vor allen, die sich an der Landschaft fotografisch abarbeiten. Aber häufig verlieren sich die Ergebnisse in professioneller Routine, im Visualisieren der Wunschvorstellung, wie eine Landschaft auszusehen hat. Reto Camenisch wählte einen anderen Weg.  Er stellt seine Kamera auf und spekuliert nicht zwingend auf vordergründige Wirkung, als wenn er der umgebenden Landschaft die Chance bieten wollte, ihren visuellen Abdruck auf dem empfindlichen Material selbst zu hinterlassen. Es sind nicht nur die reflektierten Lichtwellen, sondern auch die magischen Schwingungen, die sich hier verewigt haben. Für den Liebhaber von seichten Kalenderblattbildern ist dies keine leichte Kost. Dennoch, wer es wagt, das Reich der tiefen Töne zu betreten, wird üppig belohnt.
      
Reto Camenisch, Zeit, mit Texten von Urs Stahel und Kerstin Stremmel, erschienen 2006 im Benteli Verlag Bern, 67 Seiten, Hardcover, ISBN 3-7165-1404-7, 68,- CHF.

Erschienen in PHOTONEWS 11/06
Galerie Römerapotheke, Rämistrasse 18, CH - 8001 Zürich | gallery@roemerapotheke.ch | Impressum | top