Marcel Gähler

Peter Stamm
Der Kopf erwacht zuerst. Der Körper wehrt sich noch. Aufstehen, wenn es draussen dunkel ist. (Eine Kindheitserinnerung. Die Schule beginnt um zehn nach sieben, und der Winter nimmt kein Ende. Nicht einschlafen wollen, um nicht erwachen zu müssen in der Dunkelheit. Die Brutalität dieses Erwachens, die sinnlosen Versuche, dem Tag wieder zu entkommen in
den Schlaf.) Die kraftlose, lähmende Müdigkeit des Morgens, ein Gefühl des Sinkens. Sich ungewaschen an den Schreibtisch setzen. Schreiben als eine Form des Aufwachens. Eine Form finden in der amorphen Nacht. Nur die Form kann uns vor dem Inhalt retten.
Das Feuer im Kamin ist längst erloschen. Saurer Rauch hängt in den Räumen des Hauses. Alle Lampen anzünden und eine erste Zigarette, die geschmacklos ist und kratzt im Hals. Die überraschende Kälte, die das Haus umgibt, die mich umgibt. Der Körper hat sich über Nacht abgekühlt. Es gibt keine warmen Kleider, die Kleider hemmen nur den Wärmeaustausch. Die Welt scheint flacher als sonst. Die Nacht ist kein Raum, sie ist eine Ebene, sie ist ein Bild. Die Zeit scheint stillzustehen wie in einer Fotografie, wenn eine Hunderstelssekunde zur Ewigkeit wird. Die Überraschung ist gross, wenn sich über Nacht etwas verändert hat, wenn es geschneit hat, wenn Tiere im Schnee Spuren hinterlassen haben, unerklärliche Wege. Alles kann jetzt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, eine Oberfläche, der Lichtkegel einer Strassenlaterne, das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Das Rauschen einer Belüftungsanlage scheint unglaublich laut und wichtig. Nichts hat einen Anfang oder ein Ende. Die Bilder der Erinnerung, die Bilder der Träume sind wie Bilder aus der Nacht, hell im Zentrum und nach aussen verschwommen. Sie haben keinen Rand, verlieren sich in der Dunkelheit. Ein kleiner Ausschnitt, vom Licht einer Taschenlampe herausgehoben aus einer endlosen Ebene. Der verengte Blick.
Der erschreckende Gedanke, dass Licht etwas ist und Dunkelheit nichts. (Wenn die Batterien der Taschenlampe schwächer werden, die Lampe nur noch glimmt und man sie nahe an die Dinge führen muss, um überhaupt noch etwas zu sehen, wenn die Lampe schliesslich erlöscht, wie eine müde gewordene Sonne.) Der Gedanke, dass die Dunkelheit der Normalfall ist, das Nichts. "Wüte", schrieb Dylan Thomas, "Wüte gegen das Sterben des Lichts." Das sinnlose Wüten.
Mir fallen die Londoner Vögel ein, die mitten in der Nacht schon zu singen anfingen. Und jene seltsame Zeitungsmeldung, dass die Vögel mit den grössten Augen am Morgen als erste zu singen anfingen. Beim dritten oder vierten Kaffee dämmert es draussen. Auf dem Weg zum Bahnhof begegne ich Menschen mit erschrockenen Gesichtern, mit fiebrig roten Wangen, die Augen weit aufgerissen. Sie kommen aus der Einsamkeit ihrer Nächte und finden sich noch nicht zurecht. Sie werden wie jeden Morgen die Welt zurückerobern.

 

Galerie Römerapotheke, Rämistrasse 18, CH - 8001 Zürich | gallery@roemerapotheke.ch | Impressum | top