Reto Camenisch

Am Abgrund

»What seest thou else
In the dark backward and the abysm of time?«
SHAKESPEARE, The Tempest

Reto Camenisch hat einen weiten Weg zurücklegen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt steht. Aber er war natürlich immer schon da, ohne es wahrhaben zu wollen, wie die meisten von uns. Denn diesen Ort, diesen Abgrund tragen wir mit uns herum, und eigentlich müssten wir uns nur die Augen richtig auswischen, um ihn sehen zu können. Das ist leichter gesagt als getan in einer Welt, in der Bilder und Wörter und Töne immer zudringlicher werden, wir im Lärm des Markts (im Handy-Gebimmel!) kaum unser eigenes Wort verstehen und nicht merken, wenn wir im Ansturm der Reize aller Art, ohne einen brauchbaren Anhaltspunkt, wahrnehmungstechnisch gleichsam den Boden unter den Füssen zu verlieren drohen.

Während Reto Camenisch' erstes Buch BÜRGERBILDER von 1993 sich noch als im Einklang mit seiner Arbeit als Portrait- und Reportagefotograf befindlich verstehen lässt, kann man an vielen Bildern in BLUESLAND von 1997 bereits erkennen, dass er es gemerkt hat, dass er sich dieses Problems bewusst geworden ist. Dem eigentlichen Korpus des Buchs, 64 Schwarzweiss-Fotografien aus dem Mississippidelta, die paradoxerweise - und zwar nicht nur in ihrer demokratischen Sujetwahl - an William Eggleston, den farbigen Visionär der Südstaaten, erinnern, sind nämlich als eine Art Prolog dreizehn ebenfalls schwarzweisse Fotos aus der Schweiz vorangestellt, deren erstes und grösstes, das ebenfalls quadratische »Weissenberg, Glarus«, vorausweist auf die in ihrer menschenleeren Stille so eindrucksvollen Bilder seines neuen Buches, das ja zunächst den Titel »Heimat« tragen sollte.

Der schwarz mit wenigen Schneeflecken von der rechten unteren Ecke in den dynamischen grauen Wolkenhimmel hineinragende Berg, der nicht einmal zehn Prozent der Bildfläche einnimmt, war der Ort, an dem Edmond Camenisch im September 1964 auf der Jagd unglücklich zu Tode stürzte, als sein Sohn sechs Jahre alt war - ein Verlust, der das Leben des Jungen vermutlich so nachhaltig prägte wie kaum ein zweites Ereignis. Alfred Stieglitz nannte seine Wolkenbilder seit Mitte der Zwanziger Jahre Equivalents, weil man sie, wie er sagte, »als Äquivalente meiner tiefsten Lebenserfahrung, meiner grundlegenden Lebensphilosophie« betrachten sollte. »Weissenberg, Glarus«, das Equivalent Reto Camenisch', hat durch die vergleichsweise exzentrische Verankerung am Boden allerdings mehr mit jener zwei Jahre zuvor entstandenen Serie von Wolkenfotografien gemeinsam, die Stieglitz noch mit einer Grossformatkamera gemacht und der er den Titel »Music - A Sequence of Ten Cloud Photographs« gegeben hatte.

Für sein neues Buch ging der Fotograf wieder auf die Suche, diesmal jedoch auf eine Suche mit der Tempobezeichnung »ruhevoll«, vor seiner Haustür und bis ans Ende der Welt: »Ich reise, bewege mich von einem Punkt zum andern. Kann dann noch so fremd sein, wenn dieser Ort kommt, bin ich eins mit ihm. Heimat für kurze Augenblicke und manchmal etwas länger«. Diesen ubiquitären Heimatbegriff des nach ihr suchenden Weltenbummlers, zeichnet angesichts seiner Vergänglichkeit eine gewisse Verwandtschaft mit dem sowohl utopischen wie auch nostalgisch besetzbaren Verständnis aus, das Ernst Bloch am Ende von DAS PRINZIP HOFFNUNG damit verbindet, indem er sie als »etwas« definiert, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«.

Vielleicht war es der eher bedenkliche als bedenkenswerte Bestandteil des Begriffs, der Reto Camenisch davon absehen liess, ihn als Titel seines dritten Buches zu benutzen. Mitdenken sollte man ihn dennoch, wenn man heute ZEIT liest, weil die Abfolge der Titel - zwischenzeitlich trug das Landschaftsprojekt den Namen ORTE - auch etwas Programmatisches hat: Die in einzelnen Bildern von verschiedenen Orten aufscheinende Heimat findet ihre Erfüllung in der Zeit, wie flüchtig und transitorisch auch immer.

Reto Camenisch macht es einem nicht leicht, das seinen Landschaftsfotografien Gemeinsame zu ermitteln, die massgebenden Ingredienzien seines Heimatbilds herauszuziehen. Die Vielfalt seiner Motive ist nicht nur geografischer, sondern auch geologischer Natur, dramatische Ansichten von Bergen und Klippen in der Schweiz und in Neuseeland finden sich ebenso, wie sanft geschwungene Hügel und Küstenstriche, Panoramen, aus denen jede Spur menschlicher Einwirkung ausgespart ist, ebenso wie Bilder, die etwa am Beispiel eines ein Geviert mit einsamem Baum umschliessenden Lattenzauns im Schneesturm und verfallender Gemäuer im andalusischen Hochland offenbar die Vergeblichkeit zivilisatorischer Anstrengungen betonen wollen. Allen gemeinsam scheint lediglich die Intention, dem dunklen Abgrund der Zeit eine unverwechselbare Komposition von Linien und Licht zu entreissen, die in ihrem Zusammenspiel einen Widerhall im Innern des Fotografen auslösen.

Bei keinem Bild ist ihm das womöglich faszinierender gelungen als bei seiner Aufnahme des Niesen im Berner Oberland, die den Berg auf eine Weise über einem mit Nadelbäumen besetzten, V-förmigen Talausschnitt festhält, dass er hinter einem schwarzen gezackten Saum, der durch einen hellen Wolkennebel akzentuiert wird, einen beinahe gleichseitigen Rhombus formt. Doch auch die fünf Kühe, die links im Mittelgrund des im Vergleich zu diesem spektakulären Kleinod eher unscheinbaren Lichtbild »Julier, Graubünden« auf einer von Geröll übersäten Bergwiese weiden, tun dies vor dem Hintergrund einer mächtig aufragenden Bergflanke, die von zerfliessenden Grauwerten, auf denen sich Wolkenschatten wie Felsbilder abzeichnen, geradezu gesättigt ist. »So ist der Berg aus einer gewissen Distanz und von unten gesehen. An ihm ist nur Steilheit, gelassener Sieg, fragloser Sieg. Der oberste Teil seiner Flanke, aus grauem, leise glänzendem, glattem Fels gleicht einem Schild, einem Panzer, einer feinen in Stahl oder Silber eingelegten Arbeit. Und das ganze lang gezogene Gebilde dieses Gipfelbaues vor den hellen Himmeln hätte vielleicht auch den Eindruck erwecken können von einem sehr grossen Schiff, das nicht in ein Erdenmeer nur, das in die Ewigkeit hinein führe.« Mit diesen Sätzen endet der erste Abschnitt von Ludwig Hohls BERGFAHRT, eine Erzählung, für deren Fertigstellung er sich mehr als dreissig Jahre Zeit liess. Wir müssen annehmen, dass Reto Camenisch' Fotografie auch in ihm eine Saite zum Schwingen gebracht hätte.

Kerstin Stremmel

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