Volker März

Die Ersatzmenschparkregeln

1
Fünf Quellen bietet der neue Ersatzmensch seinem Verbraucher an:
a) aus dem ersten Stutzen, am Scheitelpunkt der Schädeldecke, kann der Verbraucher all das Geistige auftanken, das einer gesättigten Lösung aus Subversion und Souveränität gleichkommt.
b) aus dem Stutzen am Genick bekommt er vom Ersatzmenschen den speziellen Mut zum äußersten Revoltieren.
c) der Ausgang im Herzbereich dient der Euphorie und dem Gelingen von Einsamkeit
d) der Ausgang im Schritt füllt jeden Körper mit Wohlbehagen und dient der zellulären Regeneration
e) die letzen beiden Stutzen am Knie sind dienlich bei mangelnder Geduld.


2
Der Ersatzmensch ist kein besserer Mensch, er ist kein neuer Mensch, denn er ist nur unser Diener. Er ist Organspender und Doktor, Geliebter/Geliebte, Partner, Bruder, Nahrungsmittel und Müllkippe.
Peter Sloterdijk würde es freudig eine doppelte Aussenplazenta nennen.
Ersatzmenschen sollen sich durch sich selbst versorgen.
Sie machen davon selten Gebrauch. Sie müssen nie aufgetankt oder aufgeladen werden, denn sie regenerieren sich durch ihr Stummbleiben. Durch dieses Schweigen und ihre absolute Gestenlosigkeit entstehen keine Schulden, - kein Minus kann anwachsen. Das, was sich ihr Verbraucher nimmt, ist das, was er sich nehmen muss. Ersatzmenschen können nicht ausgebeutet werden.
Es gibt keine Konsequenz.


3
Der Ersatzmensch trägt seinen Verbraucher sofort nach dessen Einschlafen behutsam an einen neuen unbekannten Platz. Er bewacht den tiefen Schlaf und das darauffolgende neugierige Erwachen seines Klienten. Weil sich ihm, schon am frühen Morgen, überraschend andere, erweiternde Lebensumstände und Möglichkeiten ergeben, sollte man dies beispielhaft, als die "immer neue Chance des Migranten " bezeichnen.

4
Hin und wieder - und das ist seine einzig bekannte Schwäche, dockt er sich immer noch bei toten Tieren an. Niemand hat jemals exakt herausgefunden warum. - Ob es Mitleid gegenüber dem Kadaver oder seiner Geschichte ist, oder ob er sich dadurch nur seiner selbst vergewissert, ist bis heute unklar.

5
Er selbst ist nicht vergänglich. Wenn bei einem Verbraucher im hohen Alter die Zellteilung endgültig abgeschlossen ist, und eine weitere Erneuerung nicht möglich, dann stirbt dieser mit Hilfe des Ersatzmenschen schmerzfrei und zufrieden im Schlaf.
Wohlhabende Verbraucher lassen sich dann mit ihrem Ersatzmenschen begraben, einfache geben sie innerhalb ihrer Familie oder dem Freundeskreis weiter.

6
So heisst es für uns in seiner Nähe: freies fliessendes rolladenfernes Atmen, vom Mast des mitfühlenden linken Masochismus losgebunden und die Ohren wieder vom Wachs befreit. Der Pfropf hat ausgedient, der Pfropf den wir uns in die Ohren geklebt haben, um jeder Form der Macht und -Nachrichtenhypnose zu entgehen - um Abstand zu den Dingen zu gewinnen, um für Augenblicke nicht erreichbar und damit nicht erregbar zu sein.
Der Pfropf, den wir uns hinter das Herz treiben mussten, um den Instinkt der Distanz nicht zu verlieren, um intelligent und souverän zu bleiben, um uns die Möglichkeit der Veränderung zu erhalten, die uns allen der Ersatzmensch nun bietet, denn der Ersatzmensch fördert Fassungslosigkeit.
Wir fallen dank seiner Hilfe aus jeder Fassung und verlieren somit jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt, der ebenso ausgedient hat, wie das viel umworbene andere oder eigene Geschlecht. Nicht, daß dies ein Ende der Leidenschaft, sowie der Jagd nach Beute bedeuten soll - ganz im Gegenteil, denn ab jetzt ist diese Beute nicht mehr ans Erhabene, Ewige, Absolute, Ideale oder an andere opulente Zielgeraden gekoppelt.

7
Nietzsche hat einst behauptet, wir würden die Kunst benötigen, um die Wahrheit ertragen zu können. Ich sage, wir können mit Hilfe des Ersatzmenschen, dieser ersten wirklichen und tatsächlichen sozialen Plastik, ganz entspannt und gelassen ohne jede Form von illusionierender Kunst den desillusionierenden Wahrheiten gegenüberstehen und werden dann, an unserem Ende endlich angekommen, mit der gewonnenen Erkenntnis, dass alles nur eine schöne bodenlose Etuede am offenen Grab war, mit einem lustvollen Lächeln gern über Los gehen.

8
Natürlich nimmt der Begriff des Ersatzmenschen auch Bezug auf Nietzsches Übermensch.
Nietzsches Übermensch, dieser sich ewig Selbstüberwindende, der sich ewig selbst Wiedergebärende, dieses Koloss von eisernem Willen, diese fortdauernde geistige und seelische Kneippkur, dieses grösste Bündel an Einsamkeit, das überhaupt vorstellbar ist, sein ganzes Leben als ein einziger Blitzableiter und sein Tod verbunden mit dem schaurig dreifachen Ruf: War das alles? wohl an - das selbe bitte noch einmal!!!
Da ist der Ersatzmensch schon eher eine Form der sympathischen Resignation. Eine gelassene Überwindung der Übermenschen. Ein progressives und aphrodisierendes Resignativum.

9
Vielleicht entspringt der Mythos des Ersatzmensch einer gewissen Form der Decadence, einem Nihilismus der ab-40-jährigen, einer progressiven Müdigkeit oder einem schlussendlich akzeptierten Einsamkeitsgefühl.
Doch soll er nicht, bei all dieser wie auch immer gearteten recht pessimistischen und nach Außen hin traurigen Sichtweise auf das Leben, so etwas wie eine Klarheit des Empfindens bringen dürfen?
Vielleicht ist er der endgültige Trost, diese bitterste Form der Leichtigkeit.

10
Neuerdings geben sich die Ersatzmenschen der anarchistischen Lust des "Politikereinfangens" hin. Sie fangen diese, vor der Masse herumschwadronierenden grossohrigen Wesen, öffnen ihnen die Brust und entnehmen ihnen ihr kleines verkohltes Herz, um sich, in ihrer Freizeit damit gegenseitig die Zeit totzuschlagen.

PS:
Einige trotzköpfige Menschen wollen angeblich keine Verbraucher von Ersatzmenschen sein. Sie haben auf Grund eines falschverstandenen Selbstbewusstseins beschlossen, ohne sie auszukommen. Innerhalb kürzester Zeit wird, und das hat uns die Geschichte und das Andocken an diverse Kadaver gelehrt, eine riskante und scheinunabhängige Mangelgesellschaft entstehen, die, und das ist nur von außen wahrnehmbar, unter prägendem Zeitdruck und beängstigender Atemnot leiden wird. Diese extreme Atemnot löst panikartige Reaktionen aus und treibt jene Mangelmenschen in Scharen an fremde Rolläden, um sich dort von Außen festzusaugen. Da sie vom fremden Sauerstoffeigentum nie genug bekommen können, werden sie mit immer längeren Leitern zu immer höher liegenden Fenstern aufsteigen oder in immer tiefere Kellerlöcher klettern. Menschenfassende Saugglocken sind daraufhin nötig, um die festgesaugten Mangelmenschmassen von den Häuserfassaden zu lösen, an denen sie, am Ende ihrer Mangelbewegung zu leeren verführbaren Vakuumpropfen geworden sind, die wiederum, sollte man sie nicht von den verschlossenen Rolläden gelöst haben, wie zartes Scherbengewitter in die rezessionsbedingt leergefegten Fussgängerzonen-schneissen herniederprasseln und jeglichen Warenverkehr beenden.

Volker März 

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